Agil sein. Immer mehr Unternehmen möchten agil sein oder agiler werden. Häufig äußert sich dieser Wunsch in Verbindung mit Digitalisierung. Es fallen Stichworte wie „sich selbst neu erfinden“ oder „der Disruption durch einen noch unbekannten Konkurrenten zuvorkommen“. Es entsteht manchmal fast der Eindruck: Die Organisation solle „agiler werden“, um nicht als wenig modern oder gar rückständig zu gelten. „Agil“ liegt offensichtlich voll im Trend.
Was ist eigentlich „agil“?
Laut Duden bedeutet „agil“: „von großer Beweglichkeit zeugend; regsam und wendig“. Es ist in vielen Fällen ein Synonym für „flexibel“. Statt dieses schon etwas abgenutzten und recht allgemeinen Begriffes wird heutzutage gern „agil“ verwendet.
Aber „agil“ meint mehr als „flexibel“. Es beinhaltet auch Aspekte anderer Attribute wie „zeitnah“, „schnell“, „lösungsorientiert“, „anpassungsfähig“, „pragmatisch“, „souverän im Umgang mit Veränderung“. Also alles Eigenschaften, die sich ein Unternehmer für seine Organisation wünscht. Insbesondere dann, wenn es um die Beziehung zu Kunden geht. Wenn von „Agilität“ die Rede ist, ist deshalb häufig „Kundenorientierung“ gemeint. Es präzisiert diese aber nochmal deutlich, wie z. B.: Auf den Wunsch des Kunden ist möglichst zeitnah und lösungsorientiert zu reagieren.
Dass der Kunde im Mittelpunkt steht / stehen sollte, ist keine neue Erkenntnis. Unabhängig von der Realität im täglichen Geschäftsleben hat man sich an solche Statements in einschlägigen Publikationen gewöhnt.
Agilität in der Kundenbeziehung geht aber sehr viel weiter:
Umständliche innerbetriebliche Regeln und geruhsames Vorgehen sind fehl am Platz. Sich mit internen Problemen zu beschäftigen und den Kunden dabei (fast) zu übersehen, ist der falsche Weg. Internes, ohne direkten Bezug zum Kunden, hat hintan zu stehen. Und wo es regelmäßig oder längerfristig Kundenbeziehungen beeinträchtigen könnte, ist es Aufgabe vor allem des Managements, hier für Veränderungen zu sorgen. Die volle Aufmerksamkeit hat dem jeweiligen Kunden zu gelten.
Agilität in der Softwareentwicklung
Es war vor allem die Softwareentwicklung, die unser heutiges Verständnis des Begriffs „Agilität“ geprägt hat. Um die Jahrtausendwende herum suchte man neue Methoden und Vorgehensweisen, um den Entwicklungsprozess zu beschleunigen. Die neue Software sollte früher eingeführt werden können. Hier kommt der Begriff „agil“ in all seinen Facetten zum Tragen: schnell, lösungsorientiert, anpassungsfähig, flexibel, unbürokratisch, usw.
Diese Überlegungen prägen zunehmend die Softwareentwicklung mit den sich daraus ergebenden notwendigen Veränderungen:
Die am Prozess beteiligten Menschen, Kunden bzw. Auftraggeber und Mitarbeiter, stehen im Vordergrund. Vor allem wichtig ist, dass die Software tut, was man von ihr erwartet. Planen ist gut, aber „wendig“ auf neue Erkenntnisse oder veränderte Anforderungen zu reagieren, ist besser. Statt langwieriger Vertragsverhandlungen ist Zusammenarbeit mit dem Kunden angesagt. Um all das zu erreichen, sind sich selbst organisierende Teams fast eine natürliche Konsequenz. Unterstützt und teilweise erst möglich wird dieser neue Ansatz mit Techniken wie „Scrum“, „Kanban“ oder „Adaptive Software Entwicklung“.
Das, was im traditionellen Softwareentwicklungsprozess viel Zeit und Kosten verursacht hat, wie z. B. Spezifikation der einzelnen Funktionen, Software-Dokumentation, Planung oder Vertragsgestaltung, tritt bei einer agilen Vorgehensweise in den Hintergrund. Das allem übergeordnete Ziel ist hier eine möglichst frühzeitig einsetzbare und funktionierende Software.
Agile Organisation / agile Führung
Die Erkenntnisse aus der agilen Softwareentwicklung und die dabei gemachten Erfahrungen waren Ausgangspunkt einer ganzheitlich agilen Organisation, die ähnlichen Prinzipien folgt und die die in der Softwareentwicklung bewährten Denk- und Arbeitsweisen übernimmt. Daraus entstanden sind die Hauptkriterien einer agilen Organisation, wie ich sie in meinem Beitrag Ende letzten Jahres beschrieben habe: Extreme Zukunftsorientierung, besondere und vielfältige Stärken, intensiver ständiger Austausch mit der Umwelt und, besonders wichtig, agile Führung.
Agilität bei Wikipedia
Die Beschreibung von Agilität in Wikipedia (Stand März 2019) klingt vordergründig ähnlich: „Agilität ist ein Merkmal des Managements einer Organisation, flexibel und darüber hinaus proaktiv, antizipativ und initiativ zu agieren, um notwendige Veränderungen einzuführen.“
Allerdings bietet dieser Wikipedia-Artikel zu Agilität inhaltlich unerwartet wenig. Es ist auch deutlich zu spüren, dass der Verfasser Agilität aus dem Blickwinkel einer klassischen Organisation erläutert. Agilität wird im Wesentlichen auf organisatorische Aspekte und mechanistische Instrumente reduziert. Die extreme Wichtigkeit und das grundlegend Andere der agilen Führung wird kaum erkennbar.
Bei Wikipedia werden sechs Dimensionen aufgezählt, die eine agile Organisation auszeichnen: Agiles Zielbild, Kundenorientierte Organisationskultur, Iterative Prozesslandschaften, Mitarbeiterzentriertes Führungsverständnis, Agile Personal- und Führungsinstrumente, Agile Organisationskultur.
Was meint der Autor mit „Mitarbeiterzentriertes Führungsverständnis“?
Sein erster Satz ist ein Zitat von Haufe-Lexware: „Die Führungskraft stellt sich in den Dienst der Teams, um zusammen schneller Nutzen für den Kunden zu schaffen.“ Sein zweiter dann: „In agilen Organisationen sind die Führungskräfte nicht kontrollierende Vorgesetzte, die Druck auf ihre Mitarbeiter ausüben, sondern sie übertragen den Mitarbeiterteams Verantwortung.“
– Was soll man dazu sagen?
„Agile Personal- und Führungsinstrumente“ konzentrieren sich im Wesentlichen auf das Personalwesen (HR), das „der entscheidende Katalysator agiler Transformation“ ist.
Agilität laut Gallup
Die internationale Unternehmensberatung Gallup hat sich in ihrer Studie 2018 zum Engagement Index ausführlicher mit Agilität befasst. Eine Kernaussage bei Gallup lautet: „Der Weg zur Agilität führt über einen Kulturwandel.“
Dieser Kulturwandel bedeutet einen Wandel bei Systemen & Prozessen sowie die „richtige Einstellung“ („Mindset“) aller Beschäftigten.
Systeme & Prozesse: In der Organisation müssen entsprechende Arbeitsmittel zur Verfügung stehen, und entsprechende Prozesse müssen etabliert sein. Nur dann schaffen es die Beschäftigten, „immer das Richtige für den Kunden [zu] tun“. Das bedeutet vor allem hohen Fokus auf Qualität, auf Lieferzeit und auf Kosten.
Richtige Einstellung (Mindset): Diese kommt in den acht Komponenten der Agilität zum Ausdruck, mit denen Gallup den Kulturwandel umschreibt: Kooperation, Geschwindigkeit der Entscheidungsfindung, Fehlerkultur, Empowerment, Förderung neuer Technologien, Simplizität, Wissensaustausch, Innovationsoffenheit.
So verhilft Agilität den Unternehmen zu mehr „Wettbewerbsfähigkeit und Geschäftserfolg“.
Leider scheinen allerdings deutsche Unternehmen nicht besonders häufig agil zu sein, wenn man der Befragung von Arbeitnehmern durch Gallup in 2018 glaubt. Danach sind ganze 10 % der deutschen Unternehmen agil, weitere 34 % teilweise agil und die verbleibenden 56 % nicht agil. Unsere europäischen Wettbewerber schneiden da deutlich besser ab.
Wie wird ein Unternehmen agil?
Wie man auch aus den Beschreibungen von Gallup ersehen kann, entsteht nicht „über Nacht“ aus einem nicht agilen Unternehmen eine agile Organisation. Dabei ist es vergleichsweise einfach, die Systeme und Prozesse, von denen Gallup spricht, so zu verändern, dass sie den Beschäftigten eine hohe Kundenorientierung ermöglichen.
Aber es bleibt der Mindset. Wer daran nicht arbeitet, nutzt die Möglichkeiten der Agilität bei Weitem nicht aus. Man kann hier leider keinen „Schalter umlegen“ und es gibt auch kein Tool, um aus einem „konventionellen Unternehmen“ eine agile Organisation zu machen. Der Wandel von einer hierarchisch-direktiven Führung, so wie sie heute mehrheitlich in Deutschland praktiziert wird, zur agilen Führung wird nicht in einem Schritt funktionieren.
Dieser Kulturwandel kann nur gelingen über die sukzessive Öffnung und Weiterentwicklung der Organisation zu Führung 4.0 und von dort weiter zu agiler Führung. Schrittweise können und müssen die Führungskräfte und Mitarbeiter in die neue Führungskultur hineinwachsen sowie die Organisation des Unternehmens anpassen und weiterentwickeln.
Es gibt Möglichkeiten, diesen Prozess zu beschleunigen. Eine besteht darin, ein entsprechend geführtes Unternehmen, z. B. ein Startup, zu erwerben. Führungskräfte aus dem „Stammunternehmen“ arbeiten zeitlich befristet in dieser neuen Organisationseinheit, lernen so die neue Führungskultur kennen und erwerben konkrete Erfahrungen. Eine andere besteht darin, mit agiler Führung vertraute Führungskräfte in das Unternehmen zu holen und mit Unterstützung der Unternehmensleitung agile Strukturen, Methoden und Führung in Teilbereichen umzusetzen.
Auch gezieltes Training und entsprechende Workshops für Führungskräfte und Mitarbeiter helfen bei dieser Transformation. Aber egal, welchen Weg Sie wählen, an einer Tatsache kommt niemand vorbei: Wenn eine Führungskraft bisher nicht gelernt hat und gewohnt war, agil zu führen, muss sie sich ändern. Sie muss sich selbst ändern – und das ist bekanntlich das Schwerste.
Ludger Grevenkamp
7. März 2019
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